Die Ausstellung kreist um unsere Faszination für einfache Formen, ob sie nun aus der Frühgeschichte stammen oder zeitgenössisch sind, und illustriert, wie diese konstituierend für die Entstehung der Moderne waren.
Prägend für den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Wiederentdeckung der reinen Form: Die großen Weltausstellungen wurden beherrscht von einem neuen Formenrepertoire, dessen Einfachheit seine Wirkung auf die Kunstschaffenden nicht verfehlte und das Projekt der Moderne revolutionierte. In der sich formierenden modernen Kunst eröffneten die einfachen Formen den Künstlern neue Möglichkeiten zur Darstellung des Körpers, wie etwa Rodin sie erforschte, und gleichzeitig tauchte mit ihnen die Hypothese einer universellen Formensprache auf.
Die seinerzeit aufkeimenden Debatten in Physik, Mathematik, Phänomenologie, Biologie und Ästhetik hatten auch Auswirkungen auf Mechanik, Industrie, Architektur und die Kunst im Allgemeinen. So blieb Marcel Duchamp bei einem Besuch der Pariser Luftschau mit Constantin Brâncu!i und Fernand Léger wie angewurzelt vor einem Flugzeugpropeller stehen und rief: „Das ist das Ende der Malerei. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller?“
Bis heute haben diese reduzierten, nicht geometrischen Formen, die sich dynamisch in den Raum einschreiben, nichts von ihrer Faszination verloren. Zeitgenössische Künstler – ob minimalistisch wie Ellsworth Kelly und Richard Serra, spirituell wie Anish Kapoor, metaphysisch wie Tony Smith oder auch poetisch wie Ernesto Neto – lassen sich ebenso in ihren Bann ziehen wie einst die Erfinder der Moderne.
Die Ausstellung nimmt das Vorkommen einfacher Formen in der Welt der Kunst, der Natur und der Werkzeuge aus einer poetisch-sinnlichen Perspektive in den Blick, wobei sich ihr theoretisches Fundament aus einem analytischen Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts ergibt.
Die Ausstellung stellt Verbindungen her zwischen Ereignissen der Wissenschaftsgeschichte und technischen Erfindungen und dem Auftauchen neuer Formen. Sie stellt Themen aus der Welt der Industrie, Mechanik, Mathematik, Physik, Biologie, Phänomenologie oder Archäologie in einen Kontext mit Objekten aus Kunst und Architektur, um diese wiederum mit ihren archaischen Vorfahren und natürlichen Objekten zu konfrontieren.
Die Unternehmensstiftung Hermès (Fondation d’entreprise Hermès*) ist Koproduzent und Förderer der Ausstellung Urformen. Zentral für die Aktivitäten der Unternehmensstiftung ist die Förderung von Know-how in all seinen Formen. Ihr Interesse gilt der Kreativität, die Mensch und Natur entwickeln, um Objekte, Werkzeuge und Werke entstehen zu lassen. Die Stiftung verfügt über ein eigenes Programm, das auf die Zusammenführung von handwerklichen Fertigkeiten, Innovation und kreativem Schaffen abzielt: Ausstellungen und Künstlerresidenzen im Bereich der bildenden Kunst, das Programm New Settings für Bühnenkunst, den Prix Emile Hermès für Designprojekte und Wettbewerbe zum Thema Biodiversität.
Es war Wunsch der Unternehmensstiftung Hermès, die Ausstellung Urformen gemeinsam mit dem Centre Pompidou-Metz zu entwickeln und zu produzieren, um einem breiten Publikum neue Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Objekt in seiner reinsten Form zu gewähren und ihm die kreative Energie deutlich zu machen, die sich durch seine Interaktion mit dem Menschen ergibt.
Kuratoren:
Chefkurator:
Jean de Loisy, Präsident des Palais de Tokyo (Paris), Kunstkritiker
Assoziierte Kuratoren:
Sandra Adam-Couralet, freie Kuratorin
Mouna Mekouar, freie Kuratorin
Ausstellungsdesign: Laurence Fontaine
* Die Förderung der Unternehmensstiftung Hermès gilt all jenen, die sich mit Erwerb, Beherrschung, Weitergabe und Erforschung kreativer Fähigkeiten beschäftigen, um die gegenwärtige Welt zu gestalten und die Welt von morgen zu erfinden. Die Aktivitäten der Stiftung kreisen um Know-how in all seinen Formen sowie die Suche nach neuen Ausdrucksformen. Dabei orientiert sie sich entlang zweier sich ergänzender Achsen: Know-how und kreatives Schaffen und Know-how und Weitergabe von Wissen. Die Stiftung verfügt über ein eigenes Programm und unterstützt darüber hinaus weltweit Organisationen und Einrichtungen, die in den verschiedensten Bereichen aktiv sind.
Die Aktivitäten der Unternehmensstiftung Hermès entwickeln sich in all ihrer Vielfalt entlang eines einzigen Leitsatzes: Nos gestes nous créent – Wir sind, was wir tun.
Dieses einführende Ensemble stellt keine einfachen Formen dar, sondern ein sie häufig kennzeichnendes Prinzip: die latente Form in der noch ungeordneten Materie. Bewegungen, Umrisse, Gesischter zeichnen sich, wie in ihrer Metamorphose eingefroren, zwar noch undefiniert, aber schon lebendig an den Oberflächen ab. Die in disem Abschnitt versammelten Werke veranschaulichen eine Energie, die die Welt antreibt, ihre Fruchtbarkeit befördert, ihre Entwicklungen beschleunigt. Diese rituellen Objekte, Skulpturen, Fotografien und Zeichnungen sind keine Abbilder der Realität, stellen nicht das Sichtbare dar, sondern imitieren bzw. hinterfragen jene Dynamik, die die Dinge animiert.
Die rätselhafte Dynamik, die die Welt antreibt, lässt sich in der so einfachen Form des Mondes veranschaulichen, der seit Anbeginn der Zeit von den Menschen betrachtet wird und aufgrund seiner beständigen Wandlung Ursprung vieler Mythen ist. Der Mond - von Dichtern verehrt, in der Keramik angedeutet, gemalt, beobachtet, fotografiert und endlich vom Menschen betreten - ist die erste einfache Form. Ob nun der metaphorische Mond der Poeten oder der algebraische Mond der Wissenschaftler - er steht für eine unabhängige Metamorphose, in der die Form als Momentaufnahme einer Entwickung, als angehaltene Zeit charakterisiert werden kann.
Jede Form ist nichts weiter als ein vorübergehender Zustand, übergangsweise stabilisierte Materie. Als sich ausbreitende, expansive Energie ist die Form Ausdruck einer permanenten Aktivität der Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft, eine wahrnehmbare Lebendigkeit, über die der Mönch meditiert, aber auch der Künstler, der in seiner Zeichnung seine Bewegungen, seinen Atem, seinem Rhythmus darauf konzentriert, die Schwingungen des Kosmos zum Ausdruck zu bringen, die er wahrnimmt oder vermutet. Die Annahme eines Gleichklangs zwischen dem Zustand der Dinge, Mensch und Welt ist Ausgangspunkt für viele sprirituelle Traditionen, darunter von orientalischen Philosophien beeinflusste gnostische oder theosophische Bewegungen zu Beginn der Moderne.
4. WER KANN ETWAS BESSERES MACHEN ALS DIESE PROPELLER?Formen, die ihrer Funktion und ihren ausgeübten Kräften entsprechend konstruiert sind, um ihre Wirkung zu entfalten, und als technische Entwicklungen eine Schönheit erlangen, die sich aus der perfekten Anpassung an die Erfordernisse ergibt. Bereits primitive Instrumente wie ein Bogen oder ein Bumerang besitzen diese Perfektion. Im 19. und 20. Jahrhundert ist es die der Luftfahrttechnik, die die Künstler fasziniert. So zeigt sich Marcel Duchamp 1912 bei seinem Besuch der Pariser Luftfahrtausstellung, des Salon de la Locomotion aérienne, in Begleitung von Constantin Brancusi und Fernand Léger beeindruckt von einem Propeller: „Die Malerei ist am Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller?“ Die Begeisterung, die einfache Formen auf Künstler des 20. Jahrhunderts ausüben, gründet teilweise in dem Interesse für Linien, die frei von jeder Subjektivität sind und den Eindruck vermitteln, sich an die Erfordernisse ihrer Umgebung anzupassen.
| 11. NATUR, BIOMORPHISMUSDas Lebendige, die natürlichen Entwicklungszyklen von Pflanzen, ihre Morphogenese, die Gesetze ihrer inneren Einwicklung, das Studium ihrer Vielfalt, ihres Reproduktionszyklus und ihres Sterbens sind seit Aristoteles, aber insbesondere in den letzten zwei Jahrhunderten Forschungsgebiete der Biologie und der (foto-)grafischen Darstellung, die die wesentlichen Stufen auf- oder nachzeichnet. Aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden die physiologischen Pflanzenfunktionen auf Zell- und Molekularebene entschlüsselt. Künstler lassen sich in der Folge von diesen neuen Formen inspirieren und halten die Umrisse eines Blattes, seine Krümmung, seinen dekorativen oder symbolischen Wert oder das Wachstum einer Frucht ohne jede Darstellungsabsicht fest, nur aus Analogie, um den nun poetisierten Mechanismen, die ihrem Wachstum zugrunde liegen, möglichst nahezukommen.
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26. September 2014 bis 1. März 2015
La Grande Place, Kristallmuseum Saint-Louis, Saint-Louis-lès-Bitche
Die in La Grande Place, dem Kristallmuseum Saint-Louis im lothringischen Saint-Louis-lès-Bitche präsentierte Ausstellung Simples gestes ist Fortsetzung und Ergänzung der Ausstellung Urformen im Centre Pompidou-Metz.
„Der Geist bildet die Hand, die Hand bildet den Geist. Die Geste, die nichts erschafft und folgenlos bleibt, bestimmt den Zustand des Bewusstseins. Die Geste, die erschafft, wirkt unentwegt auf das innere Leben. Die Hand reißt den Tastsinn aus seiner aufnehmenden Passivität, sie befähigt ihn zur Erfahrung und zur Tat. Sie lehrt den Menschen, den Raum, das Gewicht, die Dichte und die Zahl in Besitz zu nehmen. Sie erschafft eine nie da gewesene Welt, und alles darin trägt ihr Gepräge. Sie misst sich mit der Materie, die sie verwandelt, mit der Form, die sie umbildet. Sie ist Erzieherin des Menschen und gibt ihm in Raum und Zeit tausendfältige Gestalt.“
Henri Focillon, Lob der Hand (1962)
„Die Ausstellung Simples gestes [Ursprüngliche Gesten] im Museum der 1586 gegründeten Kristallmanufaktur Saint-Louis, die damit die älteste Europas ist, ist konzipiert als Kontrapunkt zu den in der Ausstellung Urformen entwickelten Gedanken. Während Letztere um die Faszination der Objekte selbst kreist, nimmt die Ausstellung in Saint-Louis ihren Entstehungsprozess in den Blick, der sich vollzieht in virtuos ausgeführten filigranen Gesten oder automatisierten Gesten alltäglicher Verrichtungen, durch entfremdete Gesten der Wiederholung oder ausdrucksstarke Gesten menschlichen Miteinanders. Die Werke, die in der künstlerischen Interpretation dieser Register entstanden sind, machen die Handschrift des Körpers sichtbar, jene Schrift, die ebenso zu uns spricht wie sie uns ermöglicht, etwas zu tun. Entlang des Ausstellungsparcours, der sich innerhalb der historischen Sammlungen entwickelt, trifft der Besucher auf skulpturale, fotografische und filmische Arbeiten, mit denen die Künstler die auch in unserem digitalen Zeitalter fortwirkende Bedeutung und Ausdruckskraft unserer Gesten und insbesondere unserer Hände (schließlich bedeutet das auf das lateinische manufactura zurückgehende Wort „Manufaktur“ „handgemacht“) offenbaren.
Von der Abnutzung, die der Kiesel seit Urzeiten durch die Hand des Menschen erfährt (Gabriel Orozco), bis zu den automatisierten Handgriffen unserer täglichen Verrichtungen (Natacha Nisic, Ali Kazma), vom meisterhaften Umgang mit Werkzeugen (Jean-Luc Vilmouth, Guillaume Leblon) bis zum Tanz (Eva Kotatkova, Aneta Grzeszykowska und Émilie Pitoiset), all diese Gesten machen den Homo Faber aus – seien es jene elementaren Bewegungen, die Musik oder Skulptur (Melik Ohanian, Jean-Marie Appriou) werden, oder jene, die über die heute allgegenwärtigen Touchscreens gleiten (Julien Prévieux). Alle tragen sie in sich Anfang und Gegenwart der Menschheit.“
Jean de Loisy
Mit Simples gestes läutet die Unternehmensstiftung Fondation d’entreprise Hermès ein Programm mit wechselnden Ausstellungen in La Grande Place, dem Kristallmuseum Saint-Louis in Saint-Louis-lès-Bitche (Departement Moselle), ein.
Die Fondation d’entreprise Hermès überträgt jeweils einer lothringische Kulturinstitution die Programmgestaltung für drei aufeinanderfolgende große temporäre Ausstellung in La Grande Place. In den Jahren 2014 und 2015 ist das das Centre Pompidou-Metz.
Kuratoren:
Jean de Loisy, Präsident des Palais de Tokyo, Paris
Sandra Adam-Couralet, freie Kuratorin
LA GRANDE PLACE, KRISTALLMUSEUM SAINT-LOUIS
Rue Coëtlosquet
57620 Saint-Louis-lès-Bitche
Die Ausstellung öffnet ihre Pforten für die Öffentlichkeit am 26. September und endet am 1. März 2015. Sie ist täglich außer dienstags von 10 bis 18 Uhr geöffnet (der Eintrittspreis ist in der Eintrittskarte für das Museum inbegriffen, Preise: 6 €, 3 €).
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